Garten der Versuchung by V.C. Andrews

Autor:V.C. Andrews [Andrews, V.C.]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-04-20T16:00:00+00:00

KAPITEL ELF

Zur Schau gestellt

Die Welt erschien aufgrund dieser Enthüllung von Familiengeheimnissen und Lügen immer weniger sicher. Der Boden, über den wir schritten, konnte jeden Augenblick so dünn wie Eis werden. Dann würden wir schreiend und weinend einbrechen und hinabsinken, bis wir ganz unten auftrafen und dort einer weiteren hässlichen Wahrheit über uns oder unser Leben ins Auge sehen mussten. Selbst in einer warmherzigen, liebevollen, sicheren Familie kämpfen junge Menschen meines Alters darum, Antworten auf die quälenden Fragen zu finden: »Wer bin ich? Was soll aus mir werden?«

Nachdem alles vorbei ist – die frühe Kindheit, die Kette von Geburtstagen mit Kerzenlicht, Bergen von Geschenken, Stimmen von Verwandten, die singen und dir gute Zukunftsaussichten prophezeien, die Schuljahre, in denen du dich in Bänke verschiedener Größe hineingezwängt hast, auswendig gelernt und rezitiert hast, Referate gehalten und dich vor immer neuen Lehrern produziert hast –, fühlst du dich immer noch unzulänglich, alleine, verletzlich und nackt in einer Welt, die so unnachgiebig und schrecklich fordernd sein kann.

Manchmal klammert man sich an seine Familie wie ein Schiffbrüchiger an einen Rettungsring, aber wenn du in ihre Augen schaust, siehst du ihre Ungeduld und ihre Erwartung. Du hörst, was sie denken: Du solltest dich mittlerweile freigeschwommen haben, sonst wirst du uns noch alle nach unten ziehen.

Wenn du Glück hast, richtiges Glück hast, findest du jemanden, den du liebst, der auch dich liebt, und Einsamkeit und Furcht schrumpfen dahin. Nach dem, was wir alle erlebt haben, läuft man häufig Gefahr, die falschen Entscheidungen zu treffen, und gerade in dem Augenblick, wenn man sich sicher glaubte und den Rettungsring losließ, wurde man wieder umhergeschleudert und ertrank beinahe.

Was aber, wenn man nie eine liebevolle Familie hatte? Wenn all deine Geburtstage als kleinere Unannehmlichkeiten behandelt und dir all deine Geschenke widerwillig hingeschoben wurden? Wenn all deine Kerzen zu früh ausgeblasen wurden und dir jedes Mal, wenn du nach dem Rettungsring griffst, ein platter Reifen zugeworfen wurde und du dich allein abstrampeln musstest?

Und wenn du gerade die Dunkelheit hinter dir gelassen hattest und endlich Licht und Hoffnung und Zukunftsaussichten vor dir sahst, aber nur ein Prisma aus Lügen vorfandest, das um dich herum wirbelte, dich schwindelig machte und in einem Whirlpool der Erinnerungen herumtrudeln ließ, die, wie du jetzt wusstest, sowieso nur Illusionen waren? In welchen Fluss, welchen Teich sollst du deine Hände tauchen, damit dein Gesicht vor Lächeln strahlt? Wo kannst du die Melodie des Lachens hören? Wo in dir könnten glückliche Momente stecken, die du mit jemandem teilen kannst – selbst wenn du jemanden finden würdest, mit dem du sie teilen kannst?

Woher kennst du den Unterschied zwischen dir selbst und deinem Schatten? Könnte irgendjemand dir einen Vorwurf daraus machen, dass du jeden – jeden Passanten, jeden Bekannten, jeden Fremden – anhältst und ihm die gleiche Frage stellst? Weißt du, wer ich bin? Weißt du, wo ich das herausfinden kann?

Ich hatte eine Mutter, die nur in einem kleinen Stapel Briefe festgehalten worden ist. Ich hatte einen Vater – jemand, der auf einem alten Foto erstarrt war, ein Gesicht ohne Stimme, eine Hand, die mich nie berührte, Augen, die mich nie sahen, und Ohren, die mich nie hörten.

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